Werner Lutz Handschrift

Lyriker und Maler

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Biographie

Werner Lutz 1930 – 2016

Mit Worten malen – mit Farben schreiben

Geboren am 25. Oktober 1930 als Jüngstes von fünf Kindern einer Kleinbauern- und Seidenweberfamilie, in Wolfhalden, Kanton Appenzell Ausserrhoden (Schweiz); zu einer Zeit, in der es in ihrem Bauernhaus weder Wasser noch Strom gab. Werner musste schon sehr früh im kleinen Familienbetrieb mitarbeiten, vor allem während dem 2. Weltkrieg. Nach der Schule besuchte er die Grafikfachklasse in St.Gallen. Er zog danach als ausgebildeter Grafiker nach Basel und blieb am Rhein bis zu seinem Lebensende. Hier begann er früh Gedichte zu schreiben, welche schon bald in bekannten Anthologien veröffentlicht wurden. Da Werner Lutz die Öffentlichkeit mied, dauerte es noch über 20 Jahre bis sein erster Gedichtband Ich brauche dieses Leben bei Suhrkamp erschien. In den 70er Jahren begann er auch zu malen und zeichnen. Das Resultat ist eine ideale Verschmelzung von zwei verschiedenen Künsten mit dem gemeinsamen Nenner: Poesie. Er hatte das Glück, seine große Begabung und seine Faszination bis zu seinem Lebensende am 17. Juli 2016 ausüben zu können.

Aufgewachsen nah an einer Stallwand
zusammen mit Brennnesseln und Holunder
zwischen Hahnenfuß und Hühnerbeinen
von Bienen gestochen und von Bremsen geplagt
stehe ich noch immer dort
auch auf der Sandsteintreppe bin ich anzutreffen
ein randvoll gefüllter Wassereimer
der für immer ein randvoll gefüllter Wassereimer bleibt
ich bin zu hören als Webstuhl
der unten im feuchten Keller Seide webt
bin noch immer unterwegs als ein Bellen Maunzen Grunzen
klirre als Kuhkette in der fellwarmen Dunkelheit
ich liege als Brotlaib im Küchenkasten
dampfe als Melissentee auf dem Stubentisch
dort schreibt mein Vater mit widerspenstiger Feder
mahnende Briefe an seine Söhne
liest in der Bibel jene Abschnitte
die ebenfalls von Vätern und Söhnen handeln
von bitteren Enttäuschungen und bitterem Verzeihen.

Aufgewachsen mit den Brunnenworten einer Brunnenröhre
heftigen Worten bei Gewittern
spärlichen Worten in trockenen Zeiten
verstehe ich als einer der Letzten diese glitzernde Sprache
ich habe mit allen Sinnen zugehört
dem Brunnen dem Gras den Hügeln den Hängen
dem Winseln des Föhns dem Falterflug nah am Ohr
und nun habe ich den Faden verloren bin ein alter Mann geworden
der sich zurücksehnt und zugleich jene verflucht
die unsere Erde plündern und verwüsten
Nacht wächst über meinen Arbeitstisch dichtdunkles Nachtgras
das morgen in aller Frühe gemäht werden wird.

Biografisches Gedicht von Werner Lutz

Werner Lutz «Basler Lyrikpreis 2010»

Ausschnitte aus der Laudatio von Rudolf Bussmann

Werner Lutz's Texte lesen sich als ein fortgesetztes Gespräch; ein Gespräch das der Dichter mit sich selber, aber auch mit all dem führt, was er um sich gerade vorfindet … In den 55 Jahren, die seit der ersten Publikation des ersten Gedichts verstrichen sind, hat sich ihr Tonfall kaum verändert. Von allem Anfang an gehören die reimlosen Zeilen, die nie mehr als eine Seite füllen, zu ihrer Eigenart. Die Gedichte verzichten auf klassische Formen, orientieren sich an keiner Tradition und keinem erkennbaren Vorbild. Jedes von ihnen brütet die eigene, ihm gemäße Gestalt aus, hüllt sich das eine in eine verschlüsselte Bildlichkeit, spricht das andere mit der Direktheit eines Tagebucheintrags:

Gedichtzeilen ans Spalier gebunden
sonst weiter nichts getan

Was immer Werner Lutz in sein Gespräch einbezog, es wurde unter der Hand zu Poesie. Das gilt für seine beiden Prosabände Hügelzeiten und Bleistiftgespinste, … das gilt ebenso für sein künstlerisches Werk. Lutz war mit derselben Ausdauer, derselben Akribie im Detail, demselben Formbewusstsein, die ihn als Schreibenden auszeichnen, auch Zeichner und Maler. Die zahlreichen Verweise auf Farben, Linien, geometrische Figuren in seinem lyrischen Werk verraten, wie nahe sich die beiden Künste sind. Der Rhythmus des Worts findet sich in den Fließbewegungen seiner Schwarzweißblätter wieder, der Farbklang der abstrakten Gemälde setzt visuell fort, was in der Sprache hörbar gemacht ist. Es konnte geschehen, dass der Künstler-Dichter mitten in der Arbeit ins andere Medium wechselte, wenn ihm dies geboten erschien. Er sagte es so: «Ich nehme den Koffer und gehe aufs andere Schiff.» Der Maler und der Schriftsteller bilden eine schöpferische Einheit, ergänzen sich, inspirieren einander, arbeiten an einem kontinuierlich anwachsenden Gesamtkunstwerk.

Wer war Werner Lutz?

Wer sich mit ihm als Person beschäftigt, wird bald einmal gewahr, dass hier der Sonderfall eines Dichters vorliegt, der es fertig gebracht hat, der Öffentlichkeit so gut wie alle Informationen über sich, sein Denken, seine Art zu schreiben vorzuenthalten. Seinen biographischen Angaben in den Gedichtbüchern, im Internet, in Kunstkatalogen, ist kaum mehr zu entlocken als der trockene Satz: «Geboren 1930 in Wolfhalden (AR). Lebt und arbeitet als Maler und Lyriker in Basel.» Er hat sich kaum je in einem Interview geäußert, keine Kommentare zu seinem Schreiben abgegeben, und selbst zu einem Diskussionsabend, an dem er sich als Autor des damaligen «Basler Literaturkredits» hätte vorstellen sollen, mochte er im November 1967 nicht erscheinen. Das hat schon früh zum Gerücht geführt, er sei einer, der nichts preisgebe, der sich verweigere.

Von außen gesehen mochte tatsächlich der Eindruck entstehen, der junge Lutz entziehe sich der Öffentlichkeit. Die Schnittstelle zur Öffentlichkeit war der 13 Jahre ältere Dichter Rainer Brambach. Ihn hatte Werner Lutz kennen gelernt, als er seine erste Stelle als Grafiker just in jenem Basler Grafikatelier antrat, in dem Brambach das Büro besorgte. Brambach war es, der die ersten, noch unveröffentlichten Gedichte des jüngeren Kollegen mit Bewunderung las. Als der Schriftsteller und Herausgeber Hans Bender, mit dem Brambach seit kurzer Zeit bekannt war, sich nach Autoren für eine Anthologie mit neuer Lyrik umsah, empfahl ihm Brambach den jungen Kollegen als hoffnungsvolle Begabung. «Er ist allerdings ziemlich unstet und scheu», räumte er in seinem Brief vom 2. Oktober 1955 ein. «Wenn Sie sich bei ihm auf Akzente und meinen Namen berufen, wird er Ihnen jedoch gewiss gerne Gedichte zusenden.» In Akzente hatte Werner Lutz sein erstes Gedicht veröffentlicht, und auf diese Publikation durfte er stolz sein. Die Literaturzeitschrift Akzente, 1954 von Walter Höllerer und Hans Bender gegründet, war aus dem Stand zu einem vielbeachteten Marktplatz der aktuellen Literatur geworden. Auf ihren Seiten trafen Texte eines Erich Nossak, Wilhelm Lehmann, Thomas Mann oder Hermann Hesse auf Gedichte und Prosa von Autoren, die nach neuen Ausdrucksformen suchten, unter ihnen Ingeborg Bachmann, Wolfgang Hildesheimer, Max Frisch, Theodor W. Adorno. Hans Benders Einladung war ein Steilpass für den jungen Dichter. Doch Werner Lutz ließ sich Zeit, er schickte erst einmal gar nichts …. In der Anthologie Junge Lyrik 1956 war Lutz dann doch vertreten, was einem publizistischen Ritterschlag gleichkam, der den Mittzwanziger unter die literarische Avantgarde der Zeit brachte. Seine Gedichte wurden ins Polnische und Ungarische übersetzt, in der DDR nachgedruckt. Lutz blieb zurückhaltend. Er hatte ohne Ambitionen zu schreiben begonnen, und er schrieb weiter ohne sich einem Publikationsdruck zu beugen. Ihm war bewusst, dass er zunächst seine eigene Stimme finden musste, …

Ich brauche dieses Leben, heißt der Band, der 1979 im Suhrkamp Verlag erschien. Er wurde zum großen Erfolg. Man war sich im Urteil einig, dass hier nicht ein Erstling, sondern im Grund ein ausgereiftes Werk vorlag. Im Rückblick wird deutlich, dass der Dichter mit dem ersten Buch seine zentralen Themen versammelt, den eigenen Sprachgestus gefunden und sich eine Kleinform zu eigen gemacht hat, in welcher der Sprachgestus zum Klingen kommt. Lutz konnte als Jungautor daran gehen in aller Ruhe weiterzuschreiben. …

Von welcher Seite man das Lutzsche Universum auch betreten mag, es ist jederzeit und von überall her leicht zugänglich. Leicht heißt: ohne dass die Kenntnis bestimmter Schlüsselstellen oder literarischer Prinzipien notwendig wäre. Man geht hinein, öffnet die Sinne und lässt sich verführen. Was sehr bald ins Auge springt, ist die allgegenwärtige sprachliche Präsenz der Natur. … Das Lyrische Ich, das die Gedichte führt, hat zur Natur ein inniges, aber kein romantisches Verhältnis. Es sucht die Natur nicht auf, um sie zu genießen, Trost in ihr zu finden oder ihrer Schönheit Ausdruck zu verleihen. Die Bewegung verläuft umgekehrt, das Ich holt die Natur zu sich. Es braucht sie, um über sich reden zu können, über das, was sich seinem direkten sprachlichen Zugriff entzieht. Mit Hilfe einer Bildlichkeit, die sich aus Bekanntem und Vertrautem zusammensetzt, versucht es sich dem Unvertrauten, Verdrängten, Ungesicherten zu nähern. So etwa im Gedicht Tage, die bewegen sich nicht, das festhält, wie ein Stück unbewältigter Vergangenheit unversehens zu neuem Leben erwacht. …

Tage, die bewegen sich nicht.
Da wachsen die Treppen
um einige Stufen.
Da hört man den Fluss
durch den Hausflur fliessen.
Da wagen die Schnecken
zu kommen
und was in den Wänden
das Licht scheut, erscheint

Das Werk von Werner Lutz lässt sich verstehen als ein geduldiges Forschen nach diesem pulsierenden, unsteten Wesen, das sich ähnlich einem Elementarteilchen nie fassen lässt, sich aber in seiner Unschärfe momentweise zu erkennen gibt. Jedes Gedicht legt eine Facette seiner Vielgestalt frei. Die Suchbewegung hat mit dem ersten Gedicht begonnen und sich bis zuletzt mit großer Sensibilität fortgesetzt. Das Ich der Lutz-Texte ist kein Stadtschlenderer wie Robert Walsers Spaziergänger, der Häuser, Straßen und Menschen aus der glasklaren Ferne des Außenstehenden anschaut. Vielmehr lässt es die Dinge nah an sich heran kommen. Es gibt nichts, was ihm nicht wert wäre, bemerkt, betastet, berochen zu werden. Licht und Regen, ein Stein, eine grüne Erbse, ein Geräusch: da es mit ihnen von gleich zu gleich verkehrt, erfährt es durch sie etwas über sich. Seine Selbstzeichnung bleibt jenseits jeglicher biographischen Fassbarkeit; umso überraschender, wenn ab und zu ein Requisit auftaucht, das nachweislich aus dem Leben des Dichters entlehnt ist, der Geburtstagsmonat Oktober zum Beispiel oder unverhüllt der Name Werner. Die Beziehung zwischen dem Autor und dem Ich, das er auf die poetische Reise schickt, ist eine osmotische. «Jeder schreibt», sagte Lutz, «was in ihm unterwegs ist.» Mag je der Eindruck aufgekommen sein, hier schreibe einer, der sich verweigere, der nichts von sich preis gebe: ein Blick auf sein Werk vermag eines Besseren zu belehren. Selten hat sich ein Dichter so direkt, unsentimental, tabulos offenbart wie dieser.

Und so bündig. Bündig und trocken. Es mag mit der Lakonie des appenzellischen Hügelbewohners zusammenhängen, dass Werner Lutz sich jedes Pathos verbot. Für die schmucklosen Schönheiten des Alltags, den herben Zauber dessen, was ihm die unmittelbare Umgebung an Material zur Verfügung stellte, hielt er eine bildhafte, dennoch nüchterne Sprache bereit. Es gehört zu seiner großen Leistung, für die Darstellung des Unspektakulären eine Rhetorik der poetischen Einfachheit gefunden zu haben. Gerade dort, wo er von Existentiellem spricht, bewegt sich seine Sprache im kleinstmöglichen Radius und gibt nicht der kleinsten Abschweifung Raum. Man ahnt, welche Erfahrung einem scheinbar harmlosen Zweizeiler wie diesem zugrunde liegt:

Die Niederlagen zwischen den Fingern zerreiben
damit sie stärker duften.

Und wie der Sprachwitz gefordert ist, um Wunsch und Melancholie so souverän miteinander tanzen zu lassen:

Das Trübchen Elend, das Zwitscherchen Glück.

Knapper als in dieser Zeile lassen sich Schalk, Selbstironie und Ernst nicht ausdrücken. Oder doch? Wäre der Lutzsche Genius zu noch schamloserer Schlichtheit fähig? Wir erinnern uns. Auch zwei Worte können bei diesem Dichtungs-, Verdichtungskünstler ein Gedicht sein. Oder ein einziges:

Ein Nelkenduftferkel
Abendlobwein